3. Tag des Montaht, Lauds
Meine teuerste Elora,
Zehn lange Jahre sind vergangen, seit du von mir und Anya genommen wurdest. Im Geiste sehe ich noch immer dein wunderschönes Antlitz vor mir und denke an die glücklichen Tage unserer gemeinsamen Zeit. Es tröstet mich, wenn ich mir vorstelle, dass du diese Zeilen irgendwie persönlich lesen kannst. Vielleicht dauert es nicht mehr lange, bis es in der anderen Welt ein Wiedersehen für uns gibt.
Die Tage unseres Volkes hier in Harrogath sind gezählt. In jüngster Zeit wird Caldra, unsere Seherin, von grauenhaften Visionen unseres Unterganges heimgesucht. Gestern Nacht weckte sie das gesamte Dorf mit ihren Schreien. Als ich zu ihrer Hütte kam, war unsere Tochter Anya bereits da und beruhigte sie. Über Nacht war das rabenschwarze Haar der Seherin schlohweiß geworden. Sie lag im Delirium, als ich den Raum betrat, heulte wie von Sinnen und riss sich das Haar in blutigen Büscheln aus.
Wir brauchten einige Zeit, um sie zu beruhigen – doch selbst danach schien sie nur ein Schatten ihrer selbst zu sein. Sie reagierte auf keinen von uns unmittelbar, sondern schien in eine unsichtbare jenseitige Welt zu schauen. Malah, die Heilerin, kam zu ihr, doch ihre Versuche, Caldra zu heilen, blieben vergeblich. Unsere gequälte Seherin plagte kein körperliches Leiden – sie hatte eindeutig den Verstand verloren.
4. Tag des Montaht, Sext
Heute Morgen, bei Anbruch der Dämmerung, hielten die anderen Ältesten und ich Wache über Caldras reglosem Leib und beteten um Hilfe zu den Urahnen. Doch dann schien es, als wäre ihr Wahn so plötzlich zu Ende, wie er begonnen hatte. Sie richtete sich in ihrem Bett auf, dünne Strähnen ihres einst wunderbaren Haares hingen über ihr Nachtgewand – ein fiebriges Licht schien in ihren Augen zu lodern. Bei den Urahnen, sie sah älter aus als alle anwesenden Ältesten.
Sie schaute sich langsam in dem Raum um und betrachtete uns nacheinander. Mit einem unmerklichen, fast spöttischen Lächeln flüsterte sie mit abgehackter Stimme: „Baal kommt... und Zerstörung folgt ihm wie ein Sturm.“
Dann sank sie auf das Bett zurück und hauchte erschauernd ihren letzten Atem aus. Bei den Göttern, Elora, so lange ich lebe werde ich dieses schreckliche Omen niemals vergessen.
5. Tag des Montaht, Vespers
Sollten Caldras prophetische Worte nicht ausreichen, Qua-Kehk und seine Männer zum Handeln zu zwingen, so waren die schwarzen Rauchwolken, die im Süden aufstiegen, doch gewiss Beweis genug! Wir gingen davon aus, dass eine gewaltige Armee gegen uns marschierte, von keinem Geringeren angeführt als Baal selbst, dem Herrn der Zerstörung. Unsere schlimmsten Befürchtungen wurden bestätigt, als wir jeden Kontakt mit unserer Hauptstadt Sescheron verloren. Ich fürchte das Schlimmste, vertraue aber auf Qua-Kehk. Er hat uns stets gegen alle verteidigt, die den heiligen Berg Arreat stürmen wollten.
Höchstwahrscheinlich wurde Sescheron überrascht – mögen die Urahnen über die Bewohner wachen –, aber wir, die Söhne Harrogaths, bleiben wachsam. Die uralten Barrikaden und Wachtürme, die für diesen Tag gebaut wurden, sind bereit wie eh und je. Die alten Prophezeiungen sprechen von einem schwarzen Tag, an dem Zerstörung über uns kommen wird wie eine Sturmflut aus Blut und Feuer, in deren Kielwasser nichts als die Asche unseres Volkes zurückbleibt. Wenn ich nach Süden schaue, wo der Himmel dunkel wird, dann weiß ich, das Verhängnis ist nun gekommen.
7. Tag des Montaht, Matins
Es scheint, als wäre ich nicht der Einzige, der keinen Schlaf findet. Qua-Kehk macht seine Männer in diesem Augenblick bereit, da ich mich bereit mache. Heute morgen werde ich vorschlagen, dass wir einen der lange verbotenen Druiden-Schutzzauber wirken. Wir als Älteste sind allein in der Lage, diese gewaltigen Energien zu beschwören. Der Schutzzauber mag uns lebenswichtige magische Reserven kosten, doch wenn unser Land gerettet werden soll, müssen wir tun, was getan werden muss.
Unser Volk betrachtete die Druiden einst als Brüder – doch nach den verheerenden Druidenkriegen wurden die Druiden in die lebensfeindliche Wildnis jenseits unserer Heimat verbannt. Seit jenem Tage haben unsere Ältesten ihre beängstigenden Druidenkräfte sorgsam als Geheimnis gehütet. Die Gefahr, solche Mächte erneut zu entfesseln, erfüllt mich mit Grauen. Wird der Schutzzauber nicht richtig gewirkt, könnte er uns alle verzehren, lange bevor Baals Armee eintrifft. Aber ich habe die Rituale studiert und bin zuversichtlich, dass ich den Zauber mit Hilfe des Rates korrekt wirken kann. Der Schutzzauber wird jeder Höllenbrut den Zutritt verwehren – sogar Baal selbst. Ich habe die Absicht, ihn um ganz Harrogath auszudehnen.
Um den Zauber in dieser Form zu wirken, ist es erforderlich, dass sieben Älteste sich ausserhalb unserer schützenden Stadtmauer begeben. Die Gefahr ist groß ... Wir könnten alle sterben. Aber ich sehe keine andere Möglichkeit. Ich gehe nun und bringe die Angelegenheit vor den versammelten Ältestenrat.
Complinus
Mein Treffen mit den Ältesten war so schwierig, wie ich vermutet hatte. Sie widersetzten sich meinem Plan aufs Heftigste. Nihlathak meinte, dass es einen anderen Weg geben müsste, Baal aufzuhalten, doch weder er noch die anderen konnten eine echte Alternative bieten. Mit der Zeit kamen fünf Älteste zu der Überzeugung, dass mein Plan die einzige Möglichkeit war. Leider ließ sich Qua-Kehk nicht überzeugen. Nihlathak willigte widerstrebend ein, bei dem Zauber mitzuwirken, weigerte sich aber, Qua-Kehk vom Nutzen meines Planes zu überzeugen. Ich muss gestehen, Nihlathak flößte mir Angst ein – obschon ich älter bin als er und einen höheren Rang im Rat einnehme.
Als ich Qua-Kehk bedrängte, meinen Plan zu unterstützen, schäumte er vor Wut. Ich kann mich nicht entsinnen, ihn jemals so aufgebracht gesehen zu haben – nicht einmal, als sein bester Schüler aufbrach, um Abenteuer zu suchen, und nie zurückkehrte.
Doch mein Entschluss war unerschütterlich, und schließlich überzeugte ich ihn, dass nur so die Sicherheit von Harrogath gewährleistet werden konnte. In diesem Augenblick schart er seine besten Männer um sich, die uns beschützen sollen, während wir den Druidenzauber wirken.
Ich schreibe dies und höre die Schreie der Sterbenden in der Ferne ... sie rufen uns ... verspotten uns. Doch ehe ich meinen möglicherweise letzten Zauber wirke ... muss ich meine geliebte Anya ein letztes Mal sehen.
Aust
Ältester von Harrogath
7. Tag des Montaht
1265 Anno Kehjistani